Helenas Blick ging starr in die sich lichtende Dunkelheit hinaus, während Tränen aus ihren rehbraunen Augen strömten, ohne dass sie wie sonst versuchte, sie aufzuhalten. Sie hatte gelernt, erwachsen zu sein, sich zu beherrschen, Kara zuliebe, doch das wollte ihr heute Nacht nicht gelingen, denn zu schwer wog die Qual der Erinnerung auf der Seele des Kindes. Vor ihrem geistigen Auge sah sie stets das Gesicht ihres Vaters am Fenster, bevor die Flammen ihn verschluckten und er starb, obwohl er sie nur hatte retten wollen. Er hatte sie nicht gehasst, wie er vorgegeben hatte, denn am Ende war er für seine kleine Prinzessin gestorben und Helena ertrug den Gedanken nicht, dass er ihretwegen tot war. Nie mehr würde sie die Gelegenheit haben, mit ihm zu reden, ihn zu fragen, was sie schlimmes getan hatte, dass er sich von ihr abwandte und nie mehr die Gelegenheit haben, alles wieder gut zu machen. Er war ihr Held gewesen und nun ließ er sie alleine, ohne vorher für Frieden zwischen ihnen gesorgt zu haben. Sicher, auch der Verlust der Mutter war schwer, doch Helena hatte sie nie so sehr geliebt wie ihren Vater.
Erste Sonnestrahlen ließen den Himmel glutrot leuchten, genau wie die Flammen, die ihr Zuhause zerstört hatten. Helena schluckte trocken, als ihr bewusst wurde, dass sie nichts mehr hatten. Sie waren Vollweisen, deren ganzer Besitzt verbrannt war, angewiesen auf einen Onkel, den ihr Vater zu Lebzeiten gehasst hatte. Sie wusste nicht, warum er das getan hatte, doch sie vertraute der Menschenkenntnis ihres Papas und vermutete, dass Alexander nicht so nett war, wie er vorgab. Kara klammerte sich neben Helena immer fester an den Arm der großen Schwester, als fürchte sie sich vor dem Fremden. An ihrer Stelle antwortete der Onkel und Helenas Blick wandte sich endlich vom Fenster der Kutsche ab. Wieso fürchtete er, dass sie ihren toten Eltern Schande bereiten könnten? Das hatten sie niemals getan und es erboste das Mädchen, dass ein Fremder sich erdreistete, so etwas überhaupt nur zu denken. Er war zwar ihr Onkel, doch sie kannten ihn nicht einmal wirklich und die rebellische Helena wusste, dass sie Schwierigkeiten haben würde, sich ihm unterzuordnen und zu gehorchen. Doch sie mussten dankbar sein, denn wurde für sie sorgen. Ohne ihn würden sie sicherlich irgendwo auf der Straße sterben und somit wollte sich Helena für Kara zusammenreißen, schließlich musste sie jetzt für ihre kleine Schwester sorgen.
Die Kutsche hielt vor einem Haus, in dem noch alle Lichter brannten und ein paar spärlich bekleidete Frauen in den Fenstern lehnten, die Helena mit großen Augen betrachtete. Ihr Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb, als sie der Kutsche entstieg und das große Haus des Onkels betrat, in dem es vor Frauen nur so wimmelte. Helena war behütet aufgewachsen, doch wusste sie nur zu gut, um was für ein Etablisement es sich hier handelte und sie befürchtete, dassihr Onkel bereits sehr wohl wusste, wie sie sich bedanken konnten. Fester umschloss sie die Hand der kleinen Schwester, die nicht wusste, dass sie sich hier in einem Bordell befanden, oder was dies auch nur bedeuete und Helena war entschlossen, dafür zu sorgen, das es auch so blieb.Lieber bedankte sie sich für Kara mit, als ihre Kleine so etwas auszusetzen. Sie biss sich auf die Lippe, um neu aufkeimende Tränen hinunter zu schlucken, doch es gelang ihr nicht wirklich. "Papa, warum hast du mich nur verlassen", flüsterte sie kaum hörbar in ihrer VErzweiflung, als sie dem Onkel hinauf in die erste Etage des Hauses folgten. "Hier sind eure Zimmer. Schlaft und kommt morgen als erstes hinunter. Ich warte auf euch", wies er die beiden Mädchen an, die unsicher vor den beiden Zimmern standen, die sie nun bewohnen sollten. "Komm mit zu mir", sagte Helena leise und zog Kara zu sich in die Kammer, in der nicht mehr als ein Bett und ein Stuhl standen.